16. Oktober 2020 Allgemein, Pressemeldung

Das Gesundheitswesen investiert sein Geld in Ungesundes: Eine neue Studie untersucht die Anlagestrategien von Privatversicherern

Vom Einbremsen des Klimawandels wird es abhängen, wie es um die Gesundheit dieser und kommender Generationen auf diesem Planeten bestellt sein wird. Die Krankenversicherer müssten sich also eigentlich für eine Null-Emissions-Gesellschaft einsetzen. Das Gegenteil ist der Fall.

Deutsche Privatversicherer operieren mit einem Anlagevermögen von rund 350 Milliarden Euro. Eine Gruppe von Forschern[1], die sich mit dem Thema Klimawandel und Gesundheit auseinandersetzen, befragten 44 Versicherer nach ihrer Investitionsstrategie für diese beachtliche Summe. Nur elf der befragten Unternehmen lieferte substanzielle Daten zu ihren Rücklagen in Höhe von 77 Milliarden Euro, 24 antworteten überhaupt nicht. Auch sonst war das Ergebnis ernüchternd: Zwar berücksichtigten drei Viertel der offengelegten Anlagen (rund 76 %) ESG-Kriterien (environment, social, governance). Investitionen in Erdölförderung und -produkte wurden allerdings nicht ausgeschlossen, lediglich in Kohleförderung – aber erst ab einem hohen Schwellenwert. Ob die restlichen 276 Milliarden Euro nach den an Nachhaltigkeit orientierten ESG-Kriterien angelegt werden, ist gänzlich unklar.

„Die Mehrheit der Geldanlagen der Privatversicherer ist mutmaßlich höchst problematisch“, erklärt dazu Christian Schulz, Oberarzt in der Anästhesie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München und einer der Autoren der Studie, die im Journal of Medical Ethics der British Medical Journal-Gruppe publiziert wurde. „Vor allem können wir nicht davon ausgehen, dass sie medizinischer Ethik entsprechen – wenn sie den Klimawandel anheizen oder vielleicht auch in der Rüstungsindustrie landen.“ Die mangelnde Transparenz verhindere, so Schulz, dass die Versicherten durch eine gezielte Wahl ihres Versicherers mitentscheiden könnten, wie ihre Beiträge angelegt würden.

Weltweit haben viele Unternehmen, Regierungen, Universitäten und Finanzinstitutionen erklärt, ihre Gelder aus klimaschädlichen Investitionen abzuziehen. In Deutschland bleibt das bislang ohne große Konsequenzen: Zum Beispiel legt der Bund die Rücklagen für seine Beamtenpensionen oder auch die Pflegeversicherung weiterhin in Kohle, Gas, Öl und Fracking an. 2018 waren das über 13 Milliarden Euro, wie die Organisation Fossil Free kritisierte.[2] Das aber widerspricht den erklärten Zielen der deutschen Klimapolitik. 47 Abgeordnete des Bundestags haben deshalb im Juni 2020 in einem Positionspapier erklärt, sich dafür einzusetzen, dass die Aktienanlagen des Bundes „fossilfrei“ werden.[3]

„Die globale Erwärmung ist die größte bisherige Gesundheitsbedrohung auf diesem Planeten“, betont auch Julia Gogolewska, eine weitere Autorin und Mitglied der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG). „Aber der rasche und umfassende Abzug von Kapital aus gesundheits- und klimaschädlichen Industrien ist bisher in keinem Bereich des deutschen Gesundheitswesens als Strategie diskutiert worden bzw. lässt sich wegen mangelnder Transparenz nicht überprüfen. Eine Ausnahme ist die Berliner Ärzteversorgung, die ihre Altersversorgung ‚kohlefrei‘ gemacht hat.“ Doch nun empfahl Ende September 2020 die 93. Gesundheitsministerkonferenz allen Akteuren des Gesundheitswesens, ihre Kapitalanlagen auch nach Kriterien des Umwelt- und Klimaschutzes auszurichten.[4]

Ohne sofortiges Divestment, so die Autoren der Studie, könnten die Ziele des Pariser Abkommens zur Reduktion der klimawirksamen Emissionen unmöglich eingehalten werden. Daher haben zahlreiche Gesundheitsorganisationen weltweit, so auch der Weltärztebund und die nationalen Ärzteverbände USA, Großbritanniens, Kanadas sowie internationale medizinische Fachgesellschaften zu einem Ausstieg aus fossilen Energieunternehmen aufgerufen bzw. sich dazu verpflichtet. Das renommierte British Medical Journal startete in diesem Sinne Anfang des Jahres die Kampagne „Investing in Humanity“.[5]

Die Privatversicherer im Gesundheitswesen lassen bisher auch jenseits der Treibhausgase Engagement für die Gesundheit vermissen: „Kein einziger verzichtet auf Investitionen im Zusammenhang mit Pestiziden, persistenten Chlorverbindungen oder Asbest. Nur jeder Dritte lehnte die Beteiligung an Tabakprodukten ab, sogar Waffen wurden von einigen nicht ganz ausgeschlossen“, so Christian Schulz. Fazit der Autoren: „Nachhaltigkeitskriterien müssen zum essenziellen Bestandteil jeder Kapitalanlage werden und am Ziel der Klimaneutralität ausgerichtet sein. Das gilt vor allem für das Gesundheitssystem. Das Aufhalten des Klimawandels ist vorrangig!“

Kontakt:

PD Dr. med. Christian Schulz, Leiter AG Klimawandel, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum rechts der Isar, München
c.schulz@tum.de
+49 (89) 4140 9390

 

KLUG – Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V.
Julia Gogolewska
Freie Mitarbeiterin
j.gogolewska@klimawandel-gesundheit.de
+48 739406990

 

Dr. Dieter Lehmkuhl
Mitglied des Vorstands
dieterlehmkuhl@gmx.net
Tel.030-4042365

 

www.klimawandel-gesundheit.de

www.healthforfuture.de

www.planetary-health-academy.de

 

[1] https://jme.bmj.com/content/early/2020/10/13/medethics-2020-106381.full

[2]  https://fiebrige-finanzen.de

[3] https://fossilfreeberlin.org/2020/06/08/meilenstein-47-bundestags-abgeordnete-unterzeichnen-fuer-fossilfreie-bundes-aktiendepots/

[4] https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=1018&jahr=

[5] https://klimawandel-gesundheit.de/investing-in-humanity/